DIE ZEITSCHRIFT
FÜR ORGONOMIE

Liebe, Arbeit und Wissen sind die Quellen unseres Lebens.
Sie sollten es auch beherrschen.

WILHELM REICH

 



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David Holbrook
Charles Konia
Paul Mathews
Vittorio Nicola

MEDIZINISCHE ORGONTHERAPIE

Howard J. Chavis, M.D.

The Journal of Orgonomy vol. 31/2, 1997
The American College of Orgonomy

 

Wilhelm Reich, Arzt, Schüler und Kollege von Sigmund Freud in den 1920er und frühen 1930er Jahren, entwickelte die medizinische Orgontherapie, eine einzigartige Behandlung, die chronische Erstarrung in Charakter und Muskulatur des Patienten angeht und auflöst. Orgon ist der Name, den Reich der masse-freien Energie gab, die er in seiner Laborforschung Mitte der 1930er Jahre entdeckte, in der Atmosphäre 1940,und welche er bis zu seinem Tod im Jahre 1957 wissenschaftlich untersuchte.(1) Orgonomie ist die Wissenschaft von der Orgonenergie und umfaßt medizinische Orgonomie, Orgonbiologie, Orgonphysik, Soziologie, Meteorologie, etc.

In dieser Darstellung der medizinischen Orgontherapie werde ich über Naturwissenschaft sprechen, die Untersuchung oder das Wissen über Objekte und Prozesse, die in der Natur zu beobachten sind. Dazu gehören alle Aspekte des menschlichen Funktionierens. Ich werde kurz beschreiben, wie Reich dazu kam, die medizinische Orgontherapie zu entwickeln, inklusive der großen Entdeckungen, die er auf dem Weg gemacht hat. Dies ermöglicht uns, die Therapie und uns selbst in naturwissenschaftlicher Sicht zu sehen; d.h. aus der Perspektive des natürlichen Funktionierens.

Zunächst möchte ich, daß Sie sich einen kurzen Videoausschnitt über eine lebende Amöbe durch ein Mikroskop bei 800facher Vergrößerung anschauen. Was sehen wir, was aller Natur, sowohl in lebenden als auch in nichtlebenden Systemen, gemeinsam ist? Spontane Bewegung – Expansion, Kontraktion, Pulsation. Nun, wenn wir bei Expansion an das Wetter denken, was macht Expansion aus, einen expansiven Tag? Und wie fühlen sich Menschen in der Regel an einem solchen Tag? Es ist sonnig und Sie fühlen sich gut, energetisch und kontaktfreudig. Umgekehrt, was bedeutet Kontraktion, ein kontraktiver Tag? Und wie fühlen Sie sich an einem solchen Tag? Es ist bewölkt, bedeckt, regnerisch, und die meisten Menschen ziehen sich in sich zurück, fühlen sich manchmal "niedergeschlagen". Und wie fühlen Sie sich und wo fühlen Sie es, wenn Sie soeben beim Golf so gut wie noch nie eingelocht haben? Oder Sie sehen, wie Ihr Kind seinen ersten Schritt macht? Oder Sie umarmen Ihren Partner, den Sie über einen längeren Zeitraum nicht gesehen haben? Umgekehrt, wie fühlen Sie sich und wo fühlen Sie es, wenn Sie merken, daß das Auto, das Sie gerade fahren, soeben auf Eis schlittert? Oder wenn Sie 20 Kilometer pro Stunde schneller sind als die erlaubte Höchstgeschwindigkeit und plötzlich blinkende rote Lichter in Ihrem Rückspiegel auftauchen?

Mittels Ihrer eigenen Gefühle beschreibe ich, daß der menschliche Organismus sich ausdehnt und sich zusammenzieht; er pulsiert und diese Pulsation ist ein biologisches Phänomen. Es ist keine poetische Metapher. In einer Reihe von Experimenten hat Reich gezeigt, daß die subjektive Erfahrung von Lust und Angst objektiv gemessen werden kann. Mit Hilfe eines Vakuumröhrenverstärkers und eines Oszillographen maß er Potentialänderungen an der Hautoberfläche. Er fand, daß Reize, die als angenehm empfunden wurden (z.B. Zuckerwasser auf der Zunge oder der Kuß des Partners), eine positive Ablenkung hervorrufen und angsterzeugende Reize (z.B. ein lautes, unerwartetes Geräusch) eine Ablenkung in die entgegengesetzte Richtung auslösen. Er stellte ferner fest, daß je größer die Intensität der gefühlten Lust oder Angst ist, desto größer die gemessene Ablenkung ausfällt. Das, was Reich aufzeigte, bezeichnete er als "Urgegensatz des vegetativen Lebens" (3), d.h. daß Lust und Angst entgegengesetzte Gefühle sind. Mit anderen Worten bewegt sich bei Lust etwas, die später von ihm entdeckte Orgonenergie, nach außen zur Hautoberfläche, auf die Welt zu, und bei Angst bewegt es sich weg von der Haut, weg von der Welt, auf den Kern des Körpers zu. Diese Beobachtung und die Forschungen von Kraus und Zondek nutzend, stellte er fest, daß Lust funktionell identisch ist mit Erregung des parasympathischen Zweiges des autonomen Nervensystems und Angst mit Erregung des sympathischen Zweiges. Das heißt, aus der Perspektive des Gesamtorganismus betrachtet, erzeugt das Hervorrufen von parasympathischen und sympathischen Innervationen der Körperorgane entweder eine Expansion bzw. ein "Ausgreifen" oder eine Kontraktion bzw. einen "Rückzug nach innen". Bei parasympathischer Erregung ziehen sich die inneren Organen tatsächlich zusammen und zwingen ihren Inhalt in Richtung Hautoberfläche. Bei sympathischer Erregung ziehen sich die peripheren Gefäße zusammen und die inneren Organe entspannen bzw. erweitern sich.

Es ist offensichtlich, was dies hinsichtlich der vegetativen Antithese bedeutet. Die anatomische Aktivität des Biosystems – Kontraktion an der Peripherie und Ausweitung im Kern des Körpers – stimmt mit der Bewegung weg von der Welt überein.(2) Bei der parasympathischen Erregung bzw. der Expansion sind diese Funktionen genau entgegengesetzt – es ist eine Bewegung auf die Welt zu. Das ist der Mechanismus, der die Pulsation im Körper verankert. Wir sehen auch, wie sich biologische Expansion und Kontraktion in Redewendungen niederschlägt – kalte Angst, Platzen voll Begeisterung, mit Stolz geschwollener Brust.

Reich führte diese Experimente 1934 durch. In den sechs vergangenen Jahrzehnten wurden viele der Feinheiten des autonomen Nervensystems und seiner beiden Bereiche erkundet und von Forschern und Wissenschaftlern beschrieben. Jedoch wurde das Konzept der biologischen Peripherie und des Kerns und die Bedeutung ihrer Erregung (hin zur Welt bei Lust und weg von der Welt bei Angst) von der klassischen Medizin und Wissenschaft übersehen. So wie wir spontane, biologische Bewegung in der Expansion und Kontraktion der Amöbe, einem Einzeller, sehen, gibt es eine biologische Realität der Expansion und Kontraktion im menschlichen Organismus, einem Vielzeller, mit einem entwickelten Nervensystem.

Wie kam Reich, ein Psychoanalytiker, dazu, seine Aufmerksamkeit auf Erregung, Expansion und Kontraktion, auf biologische Pulsation zu richten? Wir wissen aus seiner eigenen Beschreibung, daß er stets an "Energie"-Prozessen interessiert gewesen war und dies für ihn Priorität vor "Stoff" bzw. "Materie" hatte (4). Als Medizinstudent fühlte er sich zu Freud und der Psychoanalyse hingezogen, aufgrund von Freuds psychischem Energiekonzept der Libido und Freuds Entdeckung der Sexualität des Säuglings und des Kindes – die psychosexuellen Entwicklungsphasen. Früh in seiner analytischen Arbeit, tatsächlich nur ein paar Jahre nach Abschluß seines Medizinstudiums, machte Reich eine seiner wichtigsten klinischen Beobachtungen: Wenn ein gehemmter Patient infolge der Behandlung zum ersten Mal mit Lust masturbieren konnte, verschwanden seine neurotischen Symptome vollständig für eine Woche, tauchten dann wieder auf, nur um mit lustvoller Masturbation wieder zu verschwinden. Etwas speiste die neurotischen Symptome und wurde mit Lust sexuell entladen. Diese Beobachtung führte zu Reichs Entdeckung der pulsatorischen, bioenergetischen Funktion der Sexualität;(3) der orgastischen Potenz(4) – die Befähigung, Energie frei in die Genitalien fließen und ohne jede Hemmung durch unwillkürliche, lustvolle Kontraktionen der Muskulatur des ganzen Körpers vollständig zu entladen; und der Funktion des Orgasmus, Energie zu entladen als letztendlicher Regulator der Energieökonomie des Organismus.

Früh in seiner analytischen Arbeit führte Reichs Suche nach der emotionalen Intensität, an der es seinen Patienten so oft ermangelte, zur Entdeckung, daß Gefühle in und durch starre Charakterreaktionen und -strukturen gebunden sind, was er als "Charakterpanzer" bezeichnete. Nicht nur, daß dies im Widerspruch zu der Vorstellung der Psychoanalytiker stand, daß Menschen mit neurotischen Symptomen, etwa Phobien, Zwängen oder irrationalen Ängsten, ansonsten gesund sind, es war auch das erste Mal, daß der Charakter – die chronische charakteristische Art und Weise, in der jemand mit der Welt interagiert – als Abwehr identifiziert wurde. Mit anderen Worten schützt die individuelle Art und Weise des Seins und Reagierens gegen wahrgenommene Gefahren sowohl aus der Außenwelt als auch vor inneren Impulsen und Emotionen. Er wies darauf hin, daß in unserer neurotischen Welt der Charakter im allgemeinen und bestimmte Charaktertypen im besonderen in jedem Menschen nach bestimmten Determinanten ausgebildet werden, aber immer als Folge eines traumatischen Konflikts zwischen den individuellen, spontanen Ausdrücken des Kindes – natürliche Impulse – und den Beschränkungen, die von der Umwelt, in der Regel den Eltern, ausgehen (6). Interessant ist, daß diese Auffassung des Charakters als traumatische Verwundung, als eine "Narbenbildung", zum etymologischen Ursprung des Wortes "Charakter" paßt: "kharesien", zu markieren und kennzeichnen, vom indoeuropäischen "Gher", d.h. markieren oder kennzeichnen. Gash (Einschnitt) ist das einzige andere englische Wort aus dieser Wurzel (7). Obwohl ihre ursprüngliche Funktion positiv war, Schutz, beinhalten diese Narben, dieser Panzer, einen Preis. Es gibt einen Rückgang der emotionalen Beweglichkeit und Lebendigkeit, eine Abnahme der Fähigkeit sich einer Situation gegenüber zu öffnen oder sich gegen sie zu sperren. Wie der individuelle Charakter auch beschrieben wird, was auch immer seine charakteristischen Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften sind, alle sind lediglich verschiedene Formen der gleichen Sache – Panzerung gegen unerträgliche Gefühlsintensitäten. Übertriebener Charme bzw. Höflichkeit bei dem einen dient der gleichen Funktion wie "Machoverhalten" oder harsche Aggressivität bei einem anderen. Denken Sie daran: diese Haltungen, die charakteristische Art und Weise, in der jeder einzelne mit anderen umgeht, ist ein Schutzmechanismus. Wenn wir an unsere liebe kleine Amöbe zurückdenken, wäre ihre Membran nicht mehr beweglich und frei fließend, sondern gehärtet. Es fällt nicht schwer, sich die fatalen Folgen für unseren einzelligen Freund auszumalen.

Ich möchte noch einmal betonen, daß die Identität der plasmatischen Funktionsweise der Amöbe und des menschlichen Organismus kein Produkt poetischer Kreativität oder eine Metapher ist. In den späten 1920er Jahren beobachtete Reich, daß Personen mit starrer Charakterabwehr (rigidem Charakterpanzer) auch muskuläre Hypertrophie und Rigidität aufweisen. Und daß, je größer die Starrheit des Charakters ist, desto steifer die Muskulatur ist. Als die charakterliche Abwehr des Patienten aufgrund der Charakteranalyse nachgab – der von Reich entwickelte Ansatz, um den Charakterpanzer aufzulösen – wurde auch die chronische muskuläre Steifigkeit abgeschwächt. Reich sah bei einem bestimmten Patienten, der eine "halsstarrige Haltung" aufwies, daß, wenn die Abwehr schließlich nachließ, der Patient eine dramatische autonome Entladung im Gesicht und am Hals erfuhr. Daraufhin erkannte Reich, daß die chronische Charakterhaltung und die chronische muskuläre Rigidität des Patienten funktionell identisch sind – beide enthalten und blockieren vegetative Energien, Empfindungen und Emotionen. Auf diese Weise stieß er auf die muskuläre Panzerung und ihre Funktion, was ihn dazu brachte, direkt an der chronisch angespannten Muskulatur zu arbeiten.

In seiner akuten Form ist der Panzer eine natürliche biologische Abwehr. Je nach den Gegebenheiten ist er manchmal sogar bei Neugeborenen während der Neonatalperiode zu sehen. In Streßsituationen sind wir angespannt und halten den Atem an, doch wenn es vorbei ist, entspannen wir uns wieder und lassen los. Wenn die muskuläre Panzerung jedoch chronisch wird, stört sie die natürliche emotionale und körperliche Beweglichkeit. Je nach Schweregrad und Verteilung kann sie auch natürliche physiologische Prozesse behindern.

Reich beschrieb die anatomische Verteilung der menschlichen Skelett-Muskulatur als Segmente, die senkrecht zur Längsachse des Körpers angeordnet sind – ähnlich wie die ringförmigen Segmente einer Schlange oder eines Wurms. Es gibt sieben Segmente: das Augen-, Mund-, Hals-, Brust-, Zwerchfell-, Bauch- und Beckensegment (8). (siehe Abb. 1)

Die klinische Erfahrung zeigt, daß die muskuläre Panzerung in diesen Segmenten in einer funktionellen Verteilung vorliegt. Beispielsweise wenn das Neugeborene als Teil des natürlichen Prozesses der Bindung zwischen Neugeborenem und Mutter mit seinen Augen zur Mutter strebt, und es Angst, Kälte oder Haß sieht, wird es sich zurückziehen und kontrahieren, insbesondere im Augensegment. Wenn dies nicht durch mütterliche Wärme und Kontakt wieder wettgemacht wird, wird die Panzerung des okularen Segments – die Augen, die Kopfhaut, das Hinterhaupt und sogar das Gehirn (wenn das Trauma schwerwiegend genug ist) - bestehenbleiben. (Okulare Panzerung tritt auch zu anderen Zeiten auf.) Wenn das Kind nicht sprechen darf, muß es den Impuls zurückhalten und es bewerkstelligt dies mit Verspannungen in Kehle, Mund, Hals und oberem Thorax. Wenn das Stillen vorzeitig beendet wird oder wenn die Mutter dabei ängstlich wird oder Ekel empfindet, kann sich das Kind im Mund abpanzern, mit Verspannungen der Kaumuskeln, der extraoralen Muskulatur und im Nacken. Vorzeitiges Toilettentraining, bevor das Kleinkind dazu von seiner Entwicklung her bereit ist, bevor es also neuromuskuläre Kontrolle über den Analsphinkter hat, kann nur gelingen, wenn das Kind die Muskeln des Beckenbodens, des Gesäßes und der Oberschenkel zusammenzieht, unterstützt durch Zurückziehen des Beckens und Hemmung der Atmung. Auf diese Weise wird der Muskelpanzer während der Entwicklung des Kindes aufgerichtet, Schicht um Schicht. Er ist die physische, somatische Grundlage der gepanzerten Charakterbildung und des gepanzerten Charakters selbst.(5)

Muskelpanzerung kann klinisch identifiziert und nachgewiesen werden, so wie Ärzte während ihres Studiums lernen, pathologische Phänomene in der physischen Diagnostik zu identifizieren. Beispiele hat jeder gegenwärtig: Wie ausdrucksstark sind die Augen? Können sie das gesamte Spektrum an Emotionen zeigen? Sind sie stumpf? Ist das Gesicht beweglich und ausdrucksstark? Ist der Kiefer verkrampft? Liegt eine spontane, volle Atmung vor? Wird die Brust in der Einatmungshaltung hochgehalten? Ist die Stimme in der Kehle gefangen wie bei Henry Kissinger? Wölbt sich der Bauch bei der Ausatmung vor? Für den scharfsichtigen, ausgebildeten Beobachter ist sehr viel mehr sichtbar.

Da sie die Bewegung von Sensationen und Emotionen blockiert, stört die Panzerung stets die Fähigkeit des Individuums Kontakt mit sich selbst, mit anderen und mit der Welt herzustellen. Kontakt, die Qualität des, wie man sagen könnte, "Dabeiseins", die Fähigkeit, eine emotionale energetische Verbindung herzustellen und aufrechtzuerhalten, wird durch die Kapazität bestimmt, intensive Empfindung auszuhalten. Obwohl Kontakt im Schlaf oder während einer langweiligen Vorlesung willentlich entzogen werden kann, indem man in den Augen "weggeht", gibt es bei chronischer Panzerung immer ein gewisses Maß an Kontaktlosigkeit. Panzerung und die daraus resultierende Kontaktlosigkeit sind die biologischen, biophysikalischen Grundlagen der Wahrnehmungsverzerrung.

Für den medizinischen Orgonomen ist Gesundheit nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit. Es gibt einen objektiven Standard für Gesundheit. Dies kann weitgehend dadurch nachgewiesen werden, indem man den Betreffenden in Rückenlage sich auf der Couch platznehmen läßt. Ohne wesentliche Panzerung ist die Atmung voll, natürlich und entspannt. Gegen Ende der Ausatmung kippt der Kopf spontan zurück, die Schultern ziehen sich sanft und leicht nach vorn, und die Welle der Atmung bewegt sich den Körper hinab und das Becken kippt leicht nach vorne. Reich bezeichnete diese Bewegung als "den Orgasmusreflex". Bei derartigen Menschen ist der Affekt natürlich, die Augen sind ausdrucksstark, Aggression ist frei von Sadismus, die Arbeitsfunktion ist ungestört und der einzelne kann mit Unabhängigkeit und Verantwortung umgehen. Dies ist schließlich eine funktionelle Definition von Gesundheit und keine idealisierte, sodaß, obwohl Panzerung vorliegen kann, sie nicht wesentlich das Funktionieren des Betreffenden in den verschiedenen Aspekten des Lebens beeinträchtigt. Dazu gehört die Kapazität, einen vollständigen und befriedigenden Orgasmus mit einem Partner des anderen Geschlechts zu erfahren (orgastische Potenz).

Die Struktur eines Menschen ohne wesentliche Panzerung wird in Abb. 2 graphisch dargestellt (nach Reich)(9). Sie zeigt die drei Schichten der ungepanzerten emotionalen Struktur des Menschen.

Der biologische Kern ist die Heimat unserer individuellen Natur, das, womit wir geboren worden sind, die Quelle unserer gesunden, primären Impulse. Die soziale Schicht ist der Teil unserer Struktur, welche der Schnittstelle zur Welt entspricht. Bei Gesundheit befindet sich diese Schicht in mehr oder weniger direktem Kontakt mit dem biologischen Kern. Die mittlere Schicht enthält den Panzer, der bei Gesundheit vorübergehender Natur ist – wir wehren ab und halten Gefühle zurück, wenn es notwendig ist, können dann aber wieder loslassen. Wenn der Panzer jedoch chronisch wird, wird aus dem sozialen Aspekt schöner Schein, er wird zur sozialen Fassade, der durch die sekundäre oder große mittlere Schicht vom Kern getrennt ist (siehe Abb. 3)(10).

Dies ist die Quelle der harschen, destruktiven sekundären Impulse, die sich als Ergebnis der Frustration und der Verzerrung von Kernimpulsen bilden und versuchen durch den Panzer zu brechen. Chronische Panzerung ist der Ursprung der menschlichen Destruktivität. Die soziale Fassade hat dann eine Abwehrfunktion – ihre Ausrichtung an der Gemeinschaft und an Regeln schützen vor dem Ausdruck dieser destruktiven Impulse.

Aus Abb. 2 und Abb. 3 wird das logische Ziel der Therapie deutlich ersichtlich. Es geht darum, die Hindernisse für das freie Strömen der Energie durch den gesamten Körper zu beseitigen, um die individuelle Kapazität für natürliche bioemotionale, bioenergetische Pulsation wiederherzustellen. In der Praxis besteht das Ziel darin, chronische charakterologische und muskuläre Panzerung aufzulösen und die individuelle Kapazität zur Herstellung und Erhaltung von emotionalem Kontakt wiederherzustellen. Mit anderen Worten: unsere Kapazität wiederherzustellen, spontan und freifließend zu sein, wie es die Amöbe ist, wenn es die äußeren Umstände zulassen.

Es gibt drei grundlegende Werkzeuge, die medizinische Orgonomen bei dieser Aufgabe zur Anwendung bringen. Der Patient soll vollständig atmen, aber nicht in einer erzwungenen bzw. mechanischen Art und Weise. Dies baut die Energieladung des Betreffenden auf oder erregt sie, was wiederum einen Druck gegen den Panzer ausübt. Oft gibt dann etwas von dem Festhalten nach, was mit der spontanen Freisetzung von Weinen, Wut, Angst oder anderen Emotionen einhergeht. Eine Patientin kam zu mir und sagte: "Ich muß weinen, aber ich kann nicht." Sie fühlte sich frustriert, ängstlich und blockiert. Ihre vorangegangene "Gesprächstherapie" war nicht in der Lage gewesen ihr zu helfen. Bei der biophysischen Untersuchung stellte ich fest, daß erhebliches Festhalten in ihrer Brust vorlag, die unbeweglich war, und einiges Festhalten in ihrem Gesicht. Auf der Couch ließ ich sie atmen und ihr Gesicht bewegen. Nach ein paar Minuten begann sie zu weinen, zuerst ohne Ton, dann mit Schluchzen tief aus der Brust heraus. So ging es etwa fünfzehn Minuten. Sie berichtete, während sie weinte, tiefe Trauer zu spüren, aber sie wußte nicht warum. Sie sagte auch, sie fühle sich erleichtert.

Ein weiteres Werkzeug, das dem medizinischen Orgonomen zu Gebote steht, ist das direkte Arbeiten an der spastischen, angespannten Muskulatur des Patienten. Das Grundprinzip ist einfach: das Drücken auf einen angespannten Muskel führt dazu, daß er sich zusammenzieht; anhaltender Druck verursacht seine anhaltende Kontraktion, was schließlich zur Ermüdung dieses Muskels führt. Er "gibt nach" und die Emotion, die durch den angespannten Muskel zurückgehalten wurde, wird befreit. Wenn es eine bestimmte Erfahrung, etwa ein bestimmtes mit der lange unterdrückten Emotion verbundenes traumatisches Ereignis, gibt, durchlebt der betreffende die Erfahrung oft erneut, komplett mit der lange verdrängten Emotion. Mit dieser emotionalen Freisetzung geht ein Gefühl großer Erleichterung einher. Ein Patient mit Bluthochdruck wurde von seinem Kardiologen wegen Depression überwiesen. Biophysisch war er durchweg gepanzert, insbesondere aber in der Brust, die er in einer inspiratorischen Haltung hochhielt.
(6) Über mehrere Sitzungen, mit dem Patienten auf der Couch, konnte ich seine Brust senken, indem ich auf sie mit allmählich zunehmendem Druck preßte. Ich ermutigte ihn, Geräusche zu machen und sein Gesicht zu bewegen. Anfangs undeutlich, begannen seine Laute und sein Gesichtsausdruck Angst zu zeigen. Dies wurde nach und nach von wütendem Knurren und Schreien abgelöst. Mit erhöhtem Druck auf der Brust brachte er bald intensive Wut zum Ausdruck, die etwa fünfzehn Minuten anhielt. Danach erzählte er mir, wie er acht Jahre zuvor in einem Stadtbus gesessen und beobachtet hatte, wie einige Halbstarke eine ältere Frau verspotteten und ihr die Brieftasche stahlen. Niemand sagte oder tat etwas. Er allein sagte, sie sollten der Frau ihre Tasche zurückgeben. Einer aus der Bande kam auf meinen Patienten auf bedrohliche Weise zu und griff in die Papiertüte, die er bei sich trug. Mein Patient hatte Angst und war überzeugt, daß er um sein Leben kämpfen müsse. Genau in diesem Augenblick kam die Polizei und verhaftete die Gauner. In der Papiertüte war eine Waffe. Offensichtlich hatte mein Patient spontan das intensive Gefühl zum Ausdruck gebracht, das er acht Jahre zuvor durchgemacht hatte, das aber nicht entladen, sondern stattdessen in der Brust festgehalten worden war.

Gemeinhin geht die Arbeit an der Muskulatur von den oberen Segmenten – okular, oral, usw. – ausgehend hinab zum Becken, das, abgesehen von seltenen Fällen, immer als letztes befreit wird. Das ermöglicht das Entfernen des Festhaltens zuerst in den oberen Segmenten, was sicherstellt, daß frühere Probleme wie sadistische Impulse oder Haß, die im Mund oder in der Brust festgehalten werden, aufgelöst werden. Das Befreien der sieben Segmente in dieser Reihenfolge hilft auch tiefergelegenes Festhalten in den Vordergrund zu bringen, das behandelt werden muß. Ein Segment kann jedoch gegebenenfalls erst dann vollständig reagieren, wenn andere Segmente freigesetzt worden sind. Mit jeder Befreiung eines Segments kann in zuvor befreiten Segmenten erneut Panzerung auftreten und weitere Aufmerksamkeit erfordern – der Organismus ist nicht darauf eingerichtet Bewegung zu ertragen und versucht in den vorherigen Zustand der Bewegungslosigkeit zurückzukehren. Das Individuum muß allmählich an freie Motilität gewöhnt werden. Dies erfordert, daß der Therapeut nicht nur eine gründliche Ausbildung genossen hat, sondern auch und vor allem ein ausreichendes Maß an Gesundheit aufweist. Für die Praxis bedeutet das, daß der Therapeut in der Lage sein muß, die Intensität der Emotion auszuhalten, die der Patient erlebt und ausdrückt. Die eigene Behandlung des Therapeuten ist deshalb der Grundstein des Trainingsprogramms des American College of Orgonomy.

Das dritte Instrument des medizinischen Orgonomen ist die Charakteranalyse, bei der die Abwehrhaltungen und Verhaltensweisen des Patienten angegangen werden. Diese dem Patienten konsequent aufzuzeigen, hilft bei der Auflösung der okularen Panzerung, weil sie den Patienten dazu bringt zu "sehen", wie er oder sie abwehrt. Es lenkt die Aufmerksamkeit darauf, wie dieser Mensch kommuniziert, darauf wie er aussieht, die Art und Weise wie er redet, sich anzieht, seine Mimik, Sprache – nicht nur auf das, was gesagt wird. Dies bringt den Patienten in besseren Kontakt zu sich selbst und kann auch versteckte oder verborgene negative Haltungen gegenüber dem Therapeuten und der Behandlung zutage fördern. Diese können dann ausgedrückt und aufgelöst werden. Es ist wichtig, die Kooperation aufrechtzuerhalten, denn Patienten werden immer versuchen, ihren gepanzerten Zustand aufrechtzuerhalten. Ich begann zu merken, daß ein Patient viele seiner Sätze mit einem leicht erhöhten Tonfall in seiner Stimme beendete. Ich richtete seine Aufmerksamkeit darauf und er sagte, daß er sich dieser Änderung im Ton seiner Stimme nicht bewußt sei. Ich fuhr fort, ihm diese Beobachtung mitzuteilen. Nach dem fünften oder sechsten Mal wurde er sich bewußt, daß er auf diese Weise sprach, um mir eine Antwort zu entlocken. In Wirklichkeit dachte er, ich sei kalt und distanziert und war wütend auf mich. Eine Patientin lag auf der Couch und ich beobachtete, wie gelassen sie wirkte und auch, wie sie ein zusammengeknäueltes Papiertaschentuch festhielt. (Sie umklammerte es nicht, was offensichtlich gewesen wäre.) Als ich sie darauf hinwies, daß sie ein Papiertaschentuch hielt, sagte sie sofort: "Ich halte mich daran fest, ich hab so eine Angst", und sie fing an zu weinen und am ganzen Körper zu zittern. Ein anderer Patient, der im Laufe der Jahre bei vielen verschiedenen Therapeuten in Behandlung gewesen war, saß entspannt und locker in seiner ersten Sitzung. Während er seine Geschichte erzählte, fragte ich ihn: "Fühlen Sie sich so entspannt, wie Sie aussehen?" Er schien überrascht zu sein und sagte "Nein", um mir dann nach einer Pause zu erzählen, wie er immer versucht habe, sich selbst als entspannt darzustellen. Er fühlte, daß es die Person "entwaffne", mit der er zusammensaß, und es ihm so erlaube, seine Angst zu kontrollieren. Niemand hatte ihn jemals eine Frage hinsichtlich seiner entspannten Art gestellt. Eine Patientin schlurfte mit ihren Füßen, als sie in mein Büro kam. Ich wies sie darauf hin, indem ich mit meinen eigenen Füssen schlurfte. Anfangs lachte sie, aber dann fing sie an zu weinen. Sie fühlte sich als Opfer ihrer Umgebung. Als wir dieser Haltung nachgingen, die ihr ziemlich vertraut war, sah sie, wie passiv sie war und wieviel Angst sie hatte für sich selbst einzustehen.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der medizinische Orgonom bei jedem Patienten alle drei Behandlungsansätze anwendet, wobei die jeweilige Gewichtung vom einzelnen Patienten und den momentanen Umständen abhängt. Die Vorstellung, daß medizinische Orgontherapie nur "Körperarbeit" sei oder nur physische Techniken anwende, ist ein unglückliches, weitverbreitetes Mißverständnis. Ein Patient kam zu mir und wollte "Körperarbeit", damit er "in die Tiefe gehen" könne. Obwohl er auf der Couch lag, hielt ich davon Abstand biophysisch zu arbeiten. Langsam aber sicher kam seine charakterliche Heimtücke und versteckte Bosheit in der Therapie zum Vorschein plus Berichte über die dysfunktionale Art und Weise, mit der er sein Leben und seine Beziehung zu anderen gestaltete. All dies hätte ich leicht übersehen können, wenn ich seinen Charakterpanzer ignoriert und seinem Wunsch nach "Körperarbeit" nachgekommen wäre.

Zum Schluß möchte ich warnend darauf hinweisen, daß eine emotionale Entladung oder "Energie in Bewegung bringen" keine medizinische Orgontherapie darstellt. Diese Erfahrungen können Menschen begeistern, die darauf aus sind mehr zu fühlen, aber für sich genommen, können sie nur oberflächliche und vorübergehende Erleichterung verschaffen. Es gibt keinen Ersatz für ein funktionelles, bioenergetisches Verständnis der Abwehrstruktur des Patienten, die sowohl den Muskel- als auch den Charakterpanzer umfaßt. Medizinische Orgontherapie erhöht die Kapazität des einzelnen im Leben, in der Liebe und in der Arbeit Erfüllung zu finden. Dies geschieht, indem man die biologische Grundlage seiner emotionalen und psychologischen Schwierigkeiten effektiv angeht – die Störung der natürlichen Funktionsweise durch chronische Panzerung.

 




Literatur

  1. Lamoreaux, S. "Demonstration of the Casimir Force in the 0.6 to 6,im Range", Physical Review Letters 78(1): 5-8, 1997
  2. Yam, P. "Exploiting Zero Point Energy", Scientific American, December 1997
  3. Reich, W. "Urgegensätze des vegetativen Lebens", Die Funktion des Orgasmus, Fischer TB, S. 215-225
  4. Reich, W. "Orgonomic Functionalism. Part II On the Historical Development of Orgonomic Functionalism", Orgone Energy Bulletin, New York: Orgone Institute Press, 2(1): 14, 1950
  5. Reich, W. "Die Orgasmus-Formel", Die Funktion des Orgasmus, S. 204-214
  6. Reich, W. Charakteranalyse. Köln: KiWi, 1989
  7. Crist, P. "Nature, Character, and Personality", Journal of Orgonomy, 27(1):51, 1993
  8. Baker, E. Der Mensch in der Falle. München: Kösel, 1980, S. 84f
  9. Reich, W. Die Funktion des Orgasmus, S. 221
  10. ibid., S. 262

 


Fußnoten

(1) Reichs Arbeit und die anderer, die seine Entdeckungen repliziert haben, wurden nach strengen wissenschaftlichen Standards durchgeführt. Der Schwerpunkt dieses Papiers und die Beschränkung des Raumes erlauben keine Präsentation und Diskussion der experimentellen Daten und zahlreichen Beobachtungen, die Reichs Entdeckung dieser masse-freien Energie, die in der gesamten Natur zu finden ist, belegen. Beispielsweise wurde die Casimir-Kraft und das Vorhandensein einer masse-freien Energie, die von der Quantenphysik vorausgesagt wurde, durch Experimente bestätigt und darüber in den Physical Review Letters (1), in Scientific American (2) und anderswo berichtet.

(2) Wir können jetzt aus einer funktionellen Perspektive die Unterscheidung zwischen den alpha- und beta-adrenergen Rezeptoren des sympathischen Zweiges aus funktioneller Perspektive verstehen. Es ist ein Konzept, das aus der Beobachtung hervorging, daß in einigen Organen (z.B. das periphere Gefäßsystem – Alpha-Rezeptoren) Katecholamine eine Kontraktion der glatten Muskulatur auslösen, während sie in anderen (z.B. Bronchien, Herz – splanchnischen Gefäßbett-beta Rezeptoren) Entspannung induzieren.

(3) In seiner Untersuchung der sexuellen Funktion entdeckte Reich, daß physiologische (mechanische) Schwellung des Gewebes der bioenergetischen Aufladung vorausgeht; daß zunehmende bioenergetische Erregung in spontaner, bioenergetischer Entladung gipfelt, gefolgt von physiologischer (mechanischer) Entspannung. Er beschrieb dies schematisch in der Orgasmus-Formel: Spannung → Ladung → Entladung → Entspannung Als Reich diese Abfolge in physiologischen Prozessen in lebenden Organismen wiederfand (einschließlich Mitose, Peristaltik, dem Funktionieren der Harnblase, usw.) benannte er die Gleichung in "Lebensformel" um (5).

(4) Die klassische Medizin definiert "sexuelle Potenz" in Begriffen mechanischer Funktion – die Fähigkeit, eine Erektion zu haben, Vaginalsekret auszuscheiden, zu ejakulieren, etc. Reich stellte fest, daß einige Personen diese Kriterien erfüllen, aber die sexuelle Umarmung wenig oder gar nicht genießen oder Symptome unvollständiger bioenergetischer Entladung zeigen. Er wies darauf hin, daß diese klassisch beschriebenen mechanischen Faktoren lediglich die Voraussetzungen für orgastische Potenz sind.

(5) Die Panzerung im Verlauf der Kindheit bestimmt den Charakter, doch können sich zusätzliche Panzerschichten während des gesamten Lebens des einzelnen entwickeln.

(6) Diese Haltung der Brust wird häufig bei Personen mit kardiovaskulären Erkrankungen gesehen.